Therapie der diabetischen
Polyneuropathie |
D. Ziegler
Deutsches Diabetes-Forschungsinstitut an der Heinrich-Heine-Universität,
Deutsche Diabetesklinik, Düsseldorf
(Leiter: Prof. Dr. med. W. A. Scherbaum) |
Unter der diabetischen Neuropathie
versteht man eine klinisch manifeste oder subklinische Erkrankung,
die im Rahmen des Diabetes mellitus auftritt und auf keine anderen
Ursachen einer peripheren Neuropathie zurückzuführen ist. Die neuropathische
Erkrankung umfasst Manifestationen im Bereich der somatischen und/oder
autonomen Anteile des peripheren Nervensystems. Mindestens jeder
dritte Diabetiker ist von einer klinisch manifesten peripheren Neuropathie
betroffen.
Klassifikation
Die Einteilung der verschiedenen Organmanifestationen
erfolgt nach klinischen Kriterien. Eine allgemein akzeptierte Klassifizierung
hat sich bislang wegen der Fülle der klinischen Bilder, die sich
teils überlappen, nicht durchsetzen können. Eine Klassifikation,
welche die Heterogenität und Ätiopathogenese der diabetischen Neuropathien
berücksichtigt, zeigt Tabelle 1.
Tabelle 1:
Klassifikation der diabetischen Neuropathie
Rasch reversibel:
hyperglykämisches
Neuropathie
Persistierende symmetrische
Polyneuropathien:
- distale somatische
sensorische/motorische Polyneuropathien mit überwiegender
Beteiligung der großkalibrigen Fasern
- autonome Neuropathien
- Small-fibre-Neuropathien
Fokale/multifokale
Neuropathien:
- kraniale Neuropathien
- thorakoabdominale Radikulopathien
- fokale Neuropathie der Extremitäten
- proximale Neuropathien
- Kompressions- und Engpassneuropathien
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Die häufigste Form ist die vorwiegend
sensible symmetrische distale Polyneuropathie. Sie beginnt
schleichend und verläuft ohne Intervention chronisch progredient.
Sie manifestiert sich bevorzugt in den distalen Abschnitten der
unteren Extremitäten, offensichtlich weil längere Axone vulnerabler
sind (längenbezogene Verteilung), seltener auch der oberen Extremitäten
(strumpf- bzw. handschuhförmige Verteilung) mit typischen Symptomen
wie Schmerzen, Parästhesien, Hyperästhesien und Taubheitsgefühl,
die sich in der Regel von distal (Zehen, Füße, Unterschenkel) nach
proximal ausbreiten (dying-back-neuropathy). Häufig werden die Schmerzen
als brennend (burning feet), bohrend, einschießend, krampfartig
oder stechend (lanzinierend) typisiert. Charakteristisch ist die
nächtliche Exazerbation der Beschwerden sowie ihre Besserung beim
Gehen. Nicht selten sind die Schmerzen mit Hypersensitivität (Dysästhesien)
bei leichter Berührung verbunden. Klinisch fallen abgeschwächte
oder fehlende Muskeleigenreflexe, Atrophien der kleinen Fußmuskeln,
Sensibilitätsstörungen, sensible Ataxie mit Gang- und Standunsicherheit,
Pallhypästhesie und herabgesetzte Thermästhesie und Algesie sowie
Nervenleitgeschwindigkeit auf.
Neuropathische Defizite mit Reduktion
bzw. Verlust der Temperatur-, Schmerz-, Bewegungs- oder Berührungssensibilität
sind von größter klinischer Bedeutung, da sie den Weg zu den neuropathisch
bedingten Fußkomplikationen (neuropathisches Ulkus, Ödem und Gelenkbeteiligung
[Osteoarthropathie, Charcot-Gelenk], Mediasklerose, Osteomyelitis)
bis hin zur Amputation ebnen können. Relativ selten sind die fokalen
und multifokalen Neuropathien mit asymmetrischen Ausfällen einzelner
oder mehrerer Hirnnerven wie z.B. des N. oculomotorius (kraniale
Neuropathie), thorakoabdominaler Nervenwurzeln im Sinne einer Mononeuropathie
des Stammes (Synonyme: trunkale Mononeuropathie, Radikulopathie,
thorakoabdominale Neuropathie) und peripherer Nerven (z.B. N. medianus,
N. peronaeus). In diese Kategorie miteinbezogen werden darüber hinaus
die Syndrome der proximalen motorischen Neuropathie (Synonyme: lumbosakrale
Plexus-Neuropathie, femorale Neuropathie, diabetische Amyotrophie,
Bruns-Garland-Syndrom) mit akut (über 1-2 Tage) oder subakut (eine
bis mehrere Wochen) plötzlich auftretenden heftigen in der Tiefe
empfundenen, anhaltenden, manchmal brennenden Schmerzen sowie Paresen
(insbesondere M. quadriceps, M. iliopsoas und Adduktoren). Eine
distal-symmetrische Polyneuropathie sowie Gewichtsverlust sind häufig
gleichzeitig vorhanden.
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Diagnostik
Im Rahmen der Consensus Development
Conference on Standardized Measures in Diabetic Neuropathy wurden
die folgenden Untersuchungsmethoden zur Diagnostik der peripheren
diabetischen Neuropathie empfohlen:
1.) klinische Untersuchung,
2.) elektrophysiologische Diagnostik und
3.) quantitative sensorische Tests.
Klinisch-neurologische
Basisuntersuchung
Sie umfasst die allgemeine medizinische
und neurologische Anamnese sowie neben der Fußinspektion auf trophische
Störungen die neurologische Untersuchung der Sensibilität mit Hilfe
von einfachen semiquantitativen Geräten wie z.B. Semmes-Weinstein-Monofilament
(Berührung), Tiptherm (Temperatur), Stimmgabel (Vibration), Nadel
(Schmerz) sowie des Lagesinns und der Motorik (Grade: normal = 0,
abgeschwächt = 1-4 [25-100%]) und der Muskeleigenreflexe (vorhanden
oder fehlend). Bei der Untersuchnung der Vibrationsschwelle am medialen
Malleolus mit Hilfe der kalibrierten Stimmgabel sind Werte unterhalb
von 6/8 Skalenteilen (Alter < 40 Jahre) bzw. 5/8 Skalenteilen (Alter
> 40 Jahre) als pathologisch anzusehen. Die neuropathischen Symptome
werden im Neuropathy Symptom Score (NSS) erfasst, während die neurologischen
Defizite im Neuropathy Disability Score (NDS) zusammengefasst werden.
Die neurologische Untersuchung sollte bei jedem Diabetiker mindestens
einmal im Jahr durchgeführt werden. Sie kann jedoch, und dies gilt
auch für den Stimmgabeltest, nur relativ fortgeschrittene Stadien
der Neuropathie erfassen. Die einer Therapie besser zugänglichen
Frühstadien können nur unter Einsatz apparativer Methoden (z.B.
Bestimmung der Warm- und Kaltschwelle) sensitiv erfasst werden.
Bei rascher Progredienz der Neuropathie, asymmetrischem Befall oder
unsicherer Diagnose sollte eine weitergehende neurologische Abklärung
veranlasst werden. Differenzialdiagnostisch sind internistisch auf
einfache Weise vor allem Neuropathien bei Alkoholabusus, Urämie,
Hypothyreose, B12-Anämie, periphere AVK und als Nebenwirkung von
Medikamenten abzugrenzen.
Elektrophysiologische
Methoden (motorische und sensible Nervenleitgeschwindigkeit, Aktionspotenziale)
Sie haben den Vorteil der Objektivität
sowie hohen Sensitivität und Reproduzierbarkeit. Ihre Grenzen liegen
in der Erfassung der Funktion lediglich der großkalibrigen myelinisierten
Fasern.
Quantitative sensorische
Tests
Sie ermöglichen die Bestimmung der
absoluten sensorischen Schwelle, definiert als die minimale Energie,
die zuverlässig für eine bestimmte Modalität entdeckt wird. Zur
Anwendung kommen Messungen der Wahrnehmungsschwellen für Druck-Berührung,
Vibration, elektrischen Strom, Kälte, Wärme, Hitze- und Kälteschmerz
sowie mechanischen Schmerz. Die Vorteile dieser Tests bestehen darin,
dass sie relativ einfach und nicht-invasiv sind bei hoher Sensitivität,
eine genaue Kontrolle der Stimulusintensität und des Testalgorithmus
erlauben, eine Differenzierung des relativen Defizits der klein-
und großkalibrigen Fasern ermöglichen und sich für Verlaufsuntersuchungen
und Screening von großen Populationen eignen.
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Therapie
Kausale Therapie
Der primäre Ansatz zu einer kausalen
Therapie basiert auf der Ausschaltung des ätiologischen Faktors
Hyperglykämie durch möglichst normnahe Stoffwechseleinstellung (siehe
Tabelle 2).
Tabelle 2: Stufentherapie
der symptomatischen diabetischen Polyneuropathie
Stufe |
Substanz/Maßnahme
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Tagesdosis |
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I:
Nahe-Normoglykämie |
Diät,
Insulin, OAD |
Individuelle
Anpassung
(Ziel: HbA1c < 7%) |
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II:
Pathogenetisch
begründbare Therapie |
alpha-Liponsäure |
600 mg als Infusion
i.v. (3 Wochen)
1200-1800 mg oral
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III:
ST, Schmerzen |
Trizyklische
Antidepressiva (TA) |
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Amitriptylin
Desipramin
Imipramin
Clomipramin |
(10-)25-150
mg
(10-)25-150 mg
(10-)25-150 mg
(10-)25-150 mg
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III:
ST, alternativ |
Selektive
Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) |
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Citalopram
Paroxetin
|
40 mg
40 mg |
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Antikonvulsiva |
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Gabapentin
Carbamazepin |
900-2700
mg
200-800 mg |
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Sonstige |
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Tramadol
Capsaicin 0,075% |
50-400
mg (20-160 Tr.)
4 x topisch (Dauer:
max. 8 Wochen) |
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IV:
ST, Therapie-
refraktäre Schmerzen |
Elektrische
Rückenmark-
Stimulation (ESCS) |
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Ergänzend:
Physikalische Therapie |
TENS,
Krankengymnastik,
Balneo-, Entspannungstherapie
Akupunktur |
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ESCS = electrical spinal
cord stimulation; TENS = transkutane elektrische Nervenstimulation;
ST = symptomatische Therapie |
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Mehrere randomisierte Studien (Oslo-Studie,
Stockholm-Studie, DCCT, Kumamoto-Studie, UKPDS, Steno-Typ-2-Studie)
haben gezeigt, dass eine langfristige Nahe-Normoglykämie bei Typ-1-,
jedoch nicht eindeutig bei Typ-2-Diabetikern zu einer Reduktion
des Risikos der Ausbildung der peripheren bzw. kardialen autonomen
Neuropathie führt. Allerdings kommt es unter intensivierter Insulintherapie
nicht zu einer gänzlichen Prävention der Neuropathie. Dies hängt
offensichtlich damit zusammen, dass auch mit den modernen Methoden
der Diabetestherapie in der Regel keine Normoglykämie erreicht wird.
Langzeitstudien bei Patienten mit manifester fortgeschrittener Neuropathie
konnten zeigen, dass unter normnaher Stoffwechseleinstellung die
weitere Progression der peripheren und autonomen Neuropathie verlangsamt
wird.
Pathogenetisch begründbare
Therapie
Es handelt sich hierbei um medikamentöse
Therapieformen, die aus den tierexperimentellen Konzepten zur Pathogenese
der diabetischen Neuropathie heraus entwickelt wurden. Sie bestehen
in der
1.) Inhibition des Polyolstoffwechselweges
durch Aldose-Reduktase-Inhibitoren,
2.) Korrektur der Veränderungen im
Metabolismus der essenziellen Fettsäuren und Prostanoide durch Substitution
von y-Linolensäure,
3.) Gabe von Antioxidantien (a-Liponsäure)
zur Reduktion der Bildung von freien Sauerstoffradikalen, die zu
erhöhtem oxidativen Stress führen,
4.) Verbesserung des reduzierten endoneuralen
Blutflusses und der konsekutiven Hypoxie durch Vasodilatatoren (ACE-Hemmer),
5.) Hemmung der nicht-enzymatischen
Glykosylierung mit Bildung der so genannten advanced glycosylation
end products (AGE) durch Gabe von Aminoguanidin sowie
6.) Unterstützung des Neurotrophismus
durch Nervenwachstumsfaktoren (NGF).
Mit Ausnahme der antioxidativen Therapie
mit a-Liponsäure (Thioctsäure) steht derzeit keiner der o.g. pathogenetisch
begründbaren therapeutischen Ansätze im klinischen Alltag zur Verfügung.
Die Substanz führt zu einer Verbesserung der neuropathischen Symptome
(Schmerzen, Brennen, Parästhesien und Taubheitsgefühl) und Defizite
(u.a. Sensibilitätsstörungen) sowie der NLG und HRV.
Symptomorientierte
Therapie
Da sich die Therapie der symptomatischen
diabetischen PNP schwierig gestalten kann und insbesondere bei der
schmerzhaften Neuropathie das direkte Ansprechen auf eine Einzelsubstanz
nicht die Regel ist, wurden von einigen Autoren therapeutische Schemata
entwickelt. Ein auf der Basis der gegenwärtigen Evidenz wirksames
stufenweises rationelles Vorgehen zeigt Tabelle 2. Bei Persistenz
von Schmerzen trotz optimaler Stoffwechseleinstellung und Gabe von
a-Liponsäure können in der nächsten Stufe trizyklische Antidepressiva
eingesetzt werden. Amitriptylin ist häufig die erste Wahl, da es
möglicherweise die stärkste Wirkung zeigt, alternativ kann jedoch
Desipramin aufgrund der geringer ausgeprägten sedativen und anticholinergen
Nebenwirkungen eingesetzt werden. Die mediane Dosis für Amitriptylin
liegt bei 75 mg, und es besteht eine eindeutige Dosis-Wirkungs-Beziehung.
Der Effekt ist bei Patienten mit und ohne Depression vergleichbar
und tritt unabhängig von einer gleichzeitigen Stimmungsaufhellung
auf. Der Wirkungsbeginn ist viel rascher (1-7 Tage) als bei der
Behandlung der Depression. Bei Nebenwirkungen oder Kontraindikationen
können alternativ die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
(SSRI) Paroxetin oder Citalopram eingesetzt werden. Die Vorteile
der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer liegen in einem im Vergleich
mit trizyklischen Antidepressiva günstigeren Nebenwirkungsprofil
und geringerem Mortalitätsrisiko aufgrund von Überdosierung. Eine
weitere relativ nebenwirkungsarme Alternative ist Gabapentin. Bei
diesem neueren Antiepileptikum handelt es sich um ein strukturelles
Analogon zu Gamma-Aminobuttersäure (GABA), dem wichtigsten inhibitorischen
Transmitter im ZNS. Das Opioid Tramadol kann vor allem zur Akutbehandlung
von neuropathischen Schmerzen eingesetzt werden.
Vermeidung von
Risikofaktoren und Komplikationen
Langfristig unzureichende Stoffwechseleinstellung,
chronischer Alkoholabusus, Hypertonie und Rauchen sind vermeidbare
bzw. therapierbare Risikofaktoren für die Ausbildung und Progression
der diabetischen Polyneuropathie. Patientenschulung über die Verhütung
von ernsthaften Komplikationen wie Fußulzera ist obligat. Prospektive
Untersuchungen zeigen, dass das Ziel einer nachhaltigen Senkung
der Amputationsraten wegen diabetischer Fußkomplikationen durch
konsequente Betreuung der betroffenen Patienten in spezialisierten
Diabetes-Fuß-Sprechstunden einschließlich Schulung hinsichtlich
sachgemäßer Fußpflege zu erreichen ist. Eine Schlüsselrolle kommt
der Prävention und Früherkennung der diabetischen Neuropathie als
dem wichtigsten pathogenetischen Faktor zu.
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Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dan Ziegler
Deutsches Diabetes-Forschungsinstitut, Deutsche Diabetes-Klinik
D-40225 Düsseldorf, Auf´m Hennekamp 65 |
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