Neuro-Osteoarthropathie

U. Dorn
Landeskliniken Salzburg, Abteilung für Orthopädie
(Vorstand: Prim. Univ.-Doz. Dr. U. Dorn)


Diabetische periphere Neuropathie und damit einhergehende Veränderungen des knöchernen Fußskelettes werden unter dem Begriff der Neuro-Osteoarthropathie zusammengefasst.

Die Kenntnisse über die Pathogenese skelettärer Alterationen sowie Veränderungen der Haut, Nerven, Gefäße und Muskeln der Füße diabetischer Patienten sind gerade in den letzten 10 Jahren entscheidend gewachsen. In früheren Publikationen wird fast ausnahmslos die periphere arterielle Verschlusskrankheit als Ursache trophischer Schäden an den Füßen von Diabetikern dargestellt. Zwangsläufig war damit in der Vergangenheit eine hohe Amputationsquote bei Diabetikern verbunden. Heute wissen wir, dass nur ein relativ kleiner Teil der Diabetiker mit Fußkomplikationen eine periphere arterielle Verschlusskrankheit aufweist, während bei dem größeren Teil dieser Patienten auf Grund der peripheren Neuropathie mit Weitstellung arterieller Gefäße sogar eine gesteigerte Durchblutung besteht. Diese diabetische periphere Neuropathie führt in weiterer Folge auch zu den charakteristischen Veränderungen des knöchernen Fußskelettes, die unter dem Begriff der Neuro-Osteoarthropathie zusammengefasst werden.

Fasst man den Begriff „diabetischer Fuß“ enger, so versteht man darunter eine Schädigung im Bereich der Füße als Folge eines Diabetes. Lange Zeit war damit das Bild der trockenen oder feuchten Gangrän assoziiert worden. Die komplexe Veränderung der Skelettarchitektur, die Dysbalance der Fußmuskulatur und der Ausfall wichtiger vegetativer Funktionen wie die der Schweißsekretion haben aber als gemeinsame Ursache die Neuropathie, ein Umstand, der lange Zeit nicht in unserem Wissen mit dem richtigen Stellenwert etabliert war. Auf Grund dieses fehlenden Wissens wurde die Prophylaxe vernachlässigt und erst der eingetretene Schaden behandelt. Dies führte in der Vergangenheit zu einer unnotwendig hohen Zahl an Amputationen.

 

Die Behandlung der eingetretenen Fußschäden des Diabetikers ist auf Grund der veränderten Heilungstendenz meist langwierig, die Schäden am Skelett irreparabel, sodass direkte Behandlungskosten und Folgekosten hoch anzusetzen sind. Amputationen führen infolge der Funktionsminderung zur Reduktion der Mobilität und dadurch zur Verschlechterung der Stoffwechselsituation. Gerade ältere Patienten werden nach Amputationen in hohem Prozentsatz zum Pflegefall.

Viele verschiedene Ursachen führen zur Entwicklung des diabetischen Fußes. Die wichtigste Rolle kommt der Neuropathie zu. Bei 2/3 aller Fälle ist die Neuropathie die Hauptursache, dabei sind sensomotorische und autonome Nerven geschädigt. Die so genannte Autosympathektomie ist für das Zustandekommen der diabetischen Osteoarthropathie verantwortlich. Ätiopathogenetisch ist der Mehranfall von Sorbitol mit toxischer Wirkung auf den Myosin-Stoffwechsel des peripheren und autonomen Nervensystems schädlich.

 

Abbildung 1: Charcot-Fuß mit Ulkus in Sohlenmitte

Durch Schädigung motorischer Nerven atrophieren insbesondere die kleinen Fußmuskeln und die Extensorenmuskulatur des Unterschenkels. Unelastischer Gang, Krallenzehenstellung und Überlastung der Mittelfußköpfchen sind direkte Folgen der motorischen Neuropathie. Die Schädigung der sensorischen Fasern bewirkt den Verlust der Schmerzempfindung, die Störung der Temperaturempfindung und die Verminderung der Tiefensensibilität. Häufige Hautverletzungen, Verbrennungen, Erfrierungen und Überbeanspruchung des Fußskelettes auf Grund mangelnder Bewegungskoordination sind die unmittelbaren Folgen. Das autonome Nervensystem reguliert die Durchblutung, Schweißsekretion und Hauttemperatur. Durch die Autosympathektomie kommt es zur Weitstellung peripherer Gefäße, genauer gesagt zur Öffnung arteriovenöser Shunts und damit zur „Luxusperfusion“, weiters zur Verminderung der Schweißsekretion. Diese beiden vegetativen Störungen führen dazu, dass der Fuß des Diabetikers meist auffällig warm und trocken ist. Die trockene, oft rissige Haut begünstigt als Eintrittspforte die Entstehung von Infektionen, zudem entstehen auf Grund verminderter mechanischer Eigenschaften über Knochenvorsprüngen Ulzerationen. Die diabetische Osteoarthropathie hat ihre Wurzeln ebenfalls in der Durchblutungsveränderung mit Öffnung arteriovenöser Shunts infolge der Schädigung des sympathischen Nervensystems. 0,15-2,5% der Diabetiker erkranken an der neuropathischen Osteoarthropathie. Infolge der gesteigerten Durchblutung kommt es durch resorptive Vorgänge zur Formveränderung des Fußskelettes mit verminderter mechanischer Belastbarkeit. Die Mittelfußknochen können das Aussehen abgelutschter Zuckerstangen annehmen. Da die Schutzfunktion der Oberflächen- und Tiefensensibilität reduziert ist, kommt es zur Überlastung der Fußwurzelknochen mit wiederkehrenden Mikro- und Makrofrakturen. Im Anschluss kommt es zu ausgedehnten und lange dauernden Umbauvorgängen des Fußskelettes. Subluxationen und Luxationen im Bereich des Chopart- und Lisfranc-Gelenkes führen zu massiven Deformitäten, wie vor allem der Knickplattfußdeformität bzw. zum typischen Schaukelfuß. Zur radiologischen Stadieneinteilung nach topographischen Gesichtspunkten eignet sich die Klassifikation von Sanders. Dabei werden 5 Typen unterschieden. Ca. 70% der Veränderungen entfallen auf Typ I, II und III. Nekrosen im Bereich der Metatarsophalangealgelenke werden als Typ I klassifiziert, daraus kann die Zuspitzung der Metatarsalia resultieren, die wiederum das Entstehen eines Ulkus begünstigt (siehe Abbildung 2). Bei Typ-II- Veränderungen (siehe Abbildung 3) sind hauptsächlich die Tarsometatarsalgelenke, also das Lisfranc-Gelenk betroffen. Durch Verformung der Cuneiformia entsteht nach Luxation des Naviculare der schwere Knick-Plattfuß. Der arthropathische Schaukelfuß entwickelt sich in Folge einer Nekrose vorwiegend im Bereich des Chopart-Gelenkes (= Typ III); siehe Abbildung 4. Der steil stehende Talus prädisponiert auf Grund der Drucküberlastung zur Entstehung des plantaren Ulkus im Fußwurzelbereich. Die seltenen Typ-IV-Veränderungen entsprechen Nekrosen im Bereich des oberen Sprunggelenkes bzw. des unteren Sprunggelenkes (= Typ V). Die verminderte Dämpfungseigenschaft des Fußskelettes führt in Kombination mit unzureichendem Schuhwerk oft nach kurzer Zeit zu ausgedehnter Ulzeration über druckbelasteten Knochenarealen und nachfolgend zur Infektion. Die häufigsten Mikroorganismen sind die gramnegativen aeroben Proteus mirabilis, Pseudomonas aeruginosa und E. coli sowie die grampositiven Enterokokken und Staphylococcus aureus.

 

Abbildung 2: Osteoarthropathie Typ I nach Sanders

 

Abbildung 3: Osteoarthropathie Typ II nach Sanders

 

Abbildung 4: Luxation des Chopart-Gelenkes bei Osteoarthropathie Typ III nach Sanders

Die Entstehung einer Ulzeration ist ein multifaktorielles Geschehen. Die Haut weist auf Grund der verminderten Schweißsekretion reduzierte mechanische Qualität auf, Schwielenbildung und Rissigkeit sind die Folge. Durch motorische Neuropathie entstehen Krallenzehen und der kontrakte Spreizfuß und damit überbelastete Hautareale. Besonders betroffen sind die Zehenkuppen, die Streckseite der Mittelgelenke und die Sohlenhaut über den Mittelfußköpfchen. Durch osteoarthropathische Deformierung des Fußskelettes entstehen zusätzlich überbeanspruchte Hautareale im Bereich der Fußwurzel und des Rückfußes. Durch die Formveränderung des Fußes wird die Mechanik der Muskeln und Sehnen beeinträchtigt, der daraus resultierende unelastische, plumpe Gang führt zu einem Anstieg von Druckbelastungen auf unphysiologische Werte.

 

Orthopädisch-chirurgische Behandlung

Die orthopädisch-chirurgische Behandlung richtet sich nach dem Stadium der Erkrankung und kann in folgende Gruppen eingeteilt werden:

  • Ulkustherapie
  • Knocheneingriffe zur Vermeidung von Perforationen
  • Fusionsoperationen
  • Chirurgie der Osteomyelitis
  • Amputationen

Ulkustherapie

70-90% aller Ulzera entstehen im Vorfußbereich. Die Ferse ist die zweithäufigste Lokalisation, gefolgt vom Mittelfuß. Das nicht infizierte Ulkus, um das es sich in der Mehrzahl der Fälle handelt, bedarf einer konsequenten chirurgischen Lokaltherapie und Entlastung. Die chirurgische Lokaltherapie umfasst die sorgfältige Exzision des kallösen Ulkus-Randwalls, die Resektion nekrotischen Subkutangewebes, die Anfrischung mit dem scharfen Löffel, die Ausspülung und mechanische Reinigung sowie Abdeckung mit resorbierenden oder hydrokolloidalen Verbänden. Die Entlastung der meist im Ulkusgrund liegenden Knochenvorsprünge muss effizient sein und dem Patienten das Gehen erleichtern. Entlastende Konfektions-Therapieschuhe oder Therapieschuhe mit individuellen Weichbettungseinlagen müssen sofort eingesetzt werden, bis die definitive Versorgung mit orthopädischen Schuhen mit Weichbettungseinlagen erfolgt. In hartnäckigen Fällen ist die Behandlung mit so genannten Vollkontaktgipsen zielführend. Damit können auch bereits lange bestehende und großflächige Ulzera innerhalb von Wochen zur Abheilung gebracht werden. Mit dem Vollkontaktgips wird dem Diabetiker das sofortige und zeitlich unbegrenzte Gehtraining bei gleichzeitiger Entlastung der ulzerierten Region ermöglicht. Da Diabetiker häufig eine reduzierte Compliance aufweisen, ist der Gipsverband als nicht abnehmbare Orthese in vielen Fällen ein weiterer Behandlungsvorteil gegenüber abnehmbaren Orthesen. Natürlich stellt sich in allen Fällen mit neuropathischem Ulkus auch die Frage einer zusätzlichen Osteomyelitis. Oberflächliche Abstriche ergeben in der Regel positive Befunde einer bakteriellen Mischflora. Von Bedeutung ist aber das klinische Bild. Ödematöse Schwellung, Inflammation der Haut und stärkere, vor allem trübe Sekretion weisen auf eine manifeste Infektion hin. Zur differenzialdiagnostischen Abklärung werden Skelettszintigraphie, Granulozytenszintigraphie und Magnetresonanztomographie eingesetzt.

Tabelle 1: Ulkustherapie

Chirurgische Lokaltherapie
  • Exzision des kallösen Ulkus-Randwalls
  • Resektion nekrotischen Subkutangewebes
  • Anfrischung mit dem scharfen Löffel
  • Ausspülung und mechanische Reinigung
  • Abdeckung mit resorbierenden oder hydrokolloidalen Verbänden
Anschließende Entlastung
  • Konfektions-Therapieschuhe
  • Therapieschuhe mit individuellen Weichbettungseinlagen
Definitive Versorgung
  • orthopädische Schuhe mit Weichbettungseinlagen
  • eventuell Vollkontaktgipse (abnehmbare/nicht abnehmbare Orthesen)

 

Knocheneingriffe zur Vermeidung von Perforationen

Typische Prädilektionsstellen für die Entstehung von Druckschwielen mit nachfolgender Ulzeration und häufiger Infektion sind die Zehenkuppen, die Streckseite der Mittelgelenke und Sohlenregion über den Mittelfußköpfchen. Wie bereits erwähnt, führt die Neuropathie motorischer Nerven zur Atrophie der kurzen Fußmuskeln und damit zur Krallenzehenstellung. Durch die Krallenzehendeformität werden auch die Kompartments des Sohlenfettpolsters verzogen, und durch die Drucksteigerung wird die Hornschwielenbildung im Bereich der Mittelfußköpfchen in Gang gesetzt. Durch die operative Korrektur der Krallenzehen und die Versetzung der Mittelfußköpfchen in ausgewählten Fällen kann die Gefahr der Ulzeration dauerhaft minimiert werden.

Bei bereits vorhandenem Ulkus an der Fußsohle im Bereich der Metatarsalköpfchen oder am Fußaußenrand über dem 5. Mittelfußköpfchen oder im Bereich der Fußwurzel ist bei Therapieresistenz nach Vollkontaktgipsbehandlung häufig auch die Resektion des Mittelfußköpfchens nötig. Bei höhergradiger Subluxation im Bereich des Chopart-Gelenkes ist fallweise eine operative Versteifung nötig, allerdings muss man eine deutlich höhere Komplikations- und Versagerquote einkalkulieren als bei Nicht-Diabetikern. Zudem muss berücksichtigt werden, dass der zweite Fuß in der Immobilisierungsphase der operierten Extremität einer höheren Belastung ausgesetzt ist.

Amputationen

Die Amputation ist prinzipiell der zu vermeidende Eingriff, in manchen Situationen ist die Amputation jedoch einer langwierigen konservierenden Therapie vorzuziehen, um den Patienten möglichst rasch und anhaltend mobilisieren zu können. Selbstverständlich ist der Nachweis der PAVK zur Entscheidungshilfe unerlässlich. Zehenamputationen und transmetatarsale Vorfußamputation behindern die Gehfähigkeit nur kurzfristig. Höhere Amputationen ziehen eine längere Rehabilitationsphase nach sich und setzen eine gute Compliance des Patienten bei der Versorgung mit Orthesen oder Prothesen voraus.

 

Anschrift des Verfassers:
Prim Univ.-Doz. Dr. Ulrich Dorn
LKH Salzburg, Abteilung für Orthopädie
A-5020 Salzburg, Müllner Hauptstraße 48

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