Ketolide
Eine neue Antibiotikaklasse |
W. Graninger
Univ.-Klinik für Innere Medizin I, Klin. Abt. für Infektionen
und Chemotherapie, AKH Wien
(Vorstand: Univ.-Prof. DDr. W. Graninger)
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Ketolide sind eine neue
Antibiotikaklasse, die aus der Erythromycin-Familie hervorgegangen
sind. Sie besitzen einen makrozyklischen Lactonring, der an den
Seitenketten wesentliche Veränderungen aufweist. Der Makrolid-typische
Zucker, die Cladinose, an Position C3 ist durch eine neuartige Keto-Gruppe
ersetzt. Diese Keto-Gruppe an Position 3 des 14-gliedrigen Lactonringes
hat der Klasse ihren Namen gegeben.
Die Keto-Gruppe trägt
entscheidend dazu bei, dass die Ketolide eine außerordentlich
hohe Säurestabilität aufweisen. Selbst bei pH 1 ist die
Substanz nach 6 Stunden noch zu 90% aktiv [8, 9].
Ketolide sind unfähig,
MLSB-Resistenzen zu induzieren, und sind
aktiv gegenüber grampositiven Kokken wie S. aureus,
S. pneumoniae und anderen Streptokokken mit induzierbarer
MLSB-Resistenz. Sie besitzen zudem eine gute
antibakterielle Aktivität gegenüber grampositiven Kokken,
deren Resistenzmechanismus auf dem Efflux-Mechanismus beruht [4].
Die ambulant erworbene
Pneumonie ist und bleibt eine der wichtigsten infektiologischen
Herausforderungen an den klinisch tätigen Arzt. Die Mortalität
dieser respiratorischen Infektion beträgt immer noch zwischen
5 und 15% [10]. Da zum Zeitpunkt der Diagnose der verursachende
Keim praktisch nie bekannt ist, ist eine empirische Therapie unter
Einschluss aller in Frage kommenden respiratorischen Erreger und
mit raschem Wirkungseintritt anzustreben. Auch die American Thoracic
Society und die Infectious Disease Society of America empfehlen
in diesem Fall ein empirisches Vorgehen.
Die häufigsten respiratorischen
Keime sind S. pneumoniae, Haemophilus influenzae und
Moraxella catarrhalis. Auch die Rolle der so genannten atypischen
Keime wie Mycoplasma pneumoniae, Chlamydia pneumoniae
oder Legionella pneumophila ist mittlerweile unbestritten.
In den vergangenen 15
Jahren wurde die antibakterielle Resistenz unter den Erregern respiratorischer
Infektionen zu einem weltweiten Problem. Bis in die 70er Jahre konnten
Infektionen durch S. pneumoniae problemlos mit Betalaktamen
behandelt werden. Seither wurde eine stetige weltweite Zunahme von
Resistenzen gegenüber Penicillin G und Erythromycin beobachtet.
Es besteht dringender Bedarf für antimikrobielle Substanzen,
die auch gegen Penicillin G- und/oder Erythromycin A-resistente
S. pneumoniae-Isolate wirksam sind. Die Klasse der Ketolide
gehört zweifellos in die Gruppe neuer Antibiotika, die in der
Lage sind, diese Erreger zu bekämpfen [7, 8].
Derzeit gibt es zwei
Substanzen, weitere sind in der Entwicklung: In klinischer Prüfung
sind das ABT 773 (Abbott) und Telithromycin (Aventis) [7].
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Entdeckung
der Ketolide
Im Rahmen der Bemühungen,
neue Derivate ohne Potenzial für die Ausbildung einer MLSB-Resistenz
zu synthetisieren, kam es zur Wiederentdeckung zweier Substanzen
mit 14-gliedrigem Ring und Keto-Gruppe in Position 3:
Narbomycin und Pikromycin
[6, 14]. Diese beiden Substanzen können als natürliche
Ketolide bezeichnet werden. Seit 1974 war bekannt, dass diese beiden
Substanzen und zwei Analoga davon inaktiv, aber nicht dazu in der
Lage sind, MLSB-Resistenz zu induzieren.
Lange Zeit glaubte man, dass die L-Cladinose der Kernpunkt für
die antimikrobielle Wirksamkeit und die Resistenz-Induzierbarkeit
von Erythromycin A sei [7, 20, 23, 24, 28].
Dennoch war man der Meinung,
dass die Wirksamkeit der 3-Keto-Verbindungen sehr sorgfältig
neu untersucht werden sollte. So entdeckte man eine schwache, aber
signifikante Wirksamkeit von Narbomycin gegen Erythromycin A-resistente,
grampositive Kokken in vitro.
Ausgehend von 3-Keto-6-O-Methyl-Erythromycin
A, wurde eine Vielzahl von Substanzen synthetisiert, aus denen eine
neue Substanzklasse semisynthetischer Derivate, die Ketolide, hervorging
[11, 16].
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Synthese
der Ketolide
Als Ausgangspunkt wurde
ein 6-O-Methyl-Analogon von Erythromycin A verwendet. Die Cladinose
wurde in saurem Medium entfernt, und über ein 3-Hydroxy-Zwischenstadium
wurde über die modifizierte Pfitzner-Moffat-Prozedur das erste
Ketolid synthetisiert [1].
Diese Substanz war genauso wirksam wie Erythromycin A gegen empfindliche
Stämme und zeigte zudem eine leichte Wirksamkeit auch gegen
Erythromycin A-resistente Stämme von S. aureus, S.
epidermidis und S. pneumoniae.
Durch diese ermutigenden
Daten wurde eine weitere Erforschung der möglichen chemischen
Modifikationen dieser neuen Grundsubstanz eingeleitet.
So kam es zu einer Zusammenführung
der bereits zuvor entdeckten 11-, 12-Cyclocarbamat-6-Methoxy-Erythromycin
A-Derivate und der
3-Keto-Gruppe. Es entstanden neue 11-, 12-Carbamat- und Hydrazono-Carbamat-Ketolide,
Telithromycin und HMR 3004 mit verbesserter antibakterieller Aktivität
gegen Erythromycin A-resistente, grampositive Kokken [1, 16].
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Struktur-Wirkungsbeziehung
In Position C3 ist eine
Keto-Gruppe, in Position C6 enthält Telithromycin eine Methoxy-Gruppe
(Abb. 1).
Abbildung
1: Telithromycin: Struktur - Wirkungsbeziehung
|
Der Carbamat-Rest in
C11 und C12 ist über eine Butyl-Seitenkette mit einem Pyridyl-Imidazol-Rest
substituiert [2, 17].
Für die Wirkung
sind vor allem die Ketofunktion in C3 und die Carbamat-Seitenkette
in C11 und C12 verantwortlich.
Die Ketofunktion in C3
vermittelt die Säurestabilität, überwindet die Makrolid-Resistenz
bei Pneumokokken, verhindert die Induktion der MLSB-Resistenz
und trägt zur mikrobiologischen Aktivität bei.
Die Carbamat-Seitenkette
bewirkt eine hohe antibakterielle Aktivität, bedingt die pharmakokinetischen
und pharmakodynamischen Eigenschaften und verhindert die Induktion
von Resistenzen. Zudem ist sie für die gute Gewebepenetration
und die hohe intrazelluläre Anreicherung verantwortlich [12].
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Wirkmechanismus
Ketolide besitzen einen
vergleichbaren Wirkmechanismus wie die Familie der Oxazolodinone,
Makrolide, Lincosamide und Streptogramine der Gruppe B.
Wie diese blockieren
sie den Aufbau der Proteine aus Aminosäuren (Proteinbiosynthese).
Der Ort der Proteinbiosynthese ist auf den Ribosomen lokalisiert.
Ribosome werden im Allgemeinen
durch ihre Sedimentationskonstante in der Ultrazentrifuge charakterisiert,
die in so genannten Svedberg-Einheiten (S) 10-13s gemessen wird.
Eine Ribosomeneinheit besitzt beispielsweise eine Sedimentationskonstante
von
7 x 10-13s oder 70 Svedberg-Einheiten (70S).
70S-Ribosome werden vor
allem in Prokaryonten gefunden, die zytoplasmatischen Ribosome der
Eukaryonten dagegen sind größer und schwerer, ihre Sedimentationskonstante
liegt um 80S.
Ribosome bestehen normalerweise
aus einer größeren und einer kleineren Untereinheit.
Die Untereinheiten der 70S-Ribosome haben im Durchschnitt Sedimentationskonstante
um 50S und 30S. Diese Untereinheiten sind nur bei der Translation
(Elongation) während der Proteinsynthese miteinander verbunden.
Nach Freisetzung der fertigen Polypeptidkette trennen sich die Untereinheiten
wieder.
Aus den 50S-Untereinheiten
lassen sich zwei RNS-Molekülarten isolieren, und zwar eine
mit einer Sedimentationskonstante von 23S und eine kleinere von
5S. Die 30S-Untereinheit des Ribosoms enthält ein rRNS-Molekül
mit einer Sedimentationskonstante von 16S [12].
Um die Proteinsynthese
in Gang zu setzen, müssen sich die 30S- und die 50S-Untereinheiten
der Ribosome zusammenlagern.
Die Reihenfolge der Aminosäuren
im Protein wird durch die Nukleotidsequenz der mRNA festgelegt und
durch das Ribosom umgeschrieben (translatiert).
Transfer-RNA-Moleküle
(tRNA), die mit einer Aminosäure beladen sind, fügen die
Aminosäuren entsprechend der Sequenz der mRNA zusammen. Der
Peptidfaden wird durch einen Translationskanal durch die ribosomale
RNA nach außen transportiert.
In diesen Kanal lagern
sich diese Antibiotika ein und verhindern so die Translokation.
Jedoch gibt es genau bei dieser Einlagerung Unterschiede zwischen
den einzelnen Antibiotika: Ketolide treten zwar mit denselben Stellen
in Wechselwirkung wie die Makrolide, unterscheiden sich aber von
den Makroliden in der Stärke der Wechselwirkung (Abb. 2).
Abbildung
2: Ribosom
|
Darüber hinaus besteht
eine direkte Wirkung auf die Bildung der 50S- und 30S-Untereinheiten
der Ribosome. Die Ketolide besitzen somit einen dualen Wirkmechanismus.
Orte der Wechselwirkung sind das Adenin 2058 in der Domäne
V der 23S rRNA und zusätzlich an Adenin 752 in der Domäne
II der 23S rRNA [12]. Dies führt dazu, dass einer der entscheidenden
Schritte, der für die weitere Anknüpfung von Aminosäuren
an die wachsende Peptidkette (Translokation) verantwortlich ist,
blockiert wird und die tRNA demzufolge zerfällt (dissoziiert).
Die Peptidkette bleibt
unvollständig, die Proteinsynthese bricht ab.
Die Keto-Gruppe an C3
und die Carbamatgruppe an C11/C12 sorgen zusätzlich für
eine mindestens zehnfach festere Bindung an die ribosomale RNA,
als es für die Makrolide gemessen wurde. Im Vergleich zu Erythromycin
bindet Telithromycin etwa 10-mal stärker an MLSB-sensible
Ribosome und mehr als 25-mal stärker an die MLSB-resistenten
Ribosome [18, 21] (Abb. 3).
Abbildung
3: 2-facher Wirkansatz am Ribosom
|
|
Welchen
Vorteil bietet dieser zweifache Wirkmechanismus?
Bei Pneumokokken, den
häufigsten Erregern bei Atemwegsinfektionen in der Praxis,
nimmt die MLSB-Resistenz zu.
Diese Resistenz beruht
darauf, dass eine Bindungsstelle am Ribosom, die Domäne V,
verändert ist. Chemisch gesehen wird an die Bindungsstelle
ein Methylrest angehängt. Diese Veränderung kann entweder
durch den Zuckerrest, die Cladinose, an Position 3 der MLSB-Antibiotika
ausgelöst werden (Induktion) oder seltener durch spontane Veränderungen
(Mutation). An der veränderten Bindungsstelle können sich
z. B. Makrolide nicht mehr anheften, um die Proteinsynthese zu blockieren.
An der zweiten Bindungsstelle (Domäne II) am Ribosom haften
MLSB-Antibiotika gar nicht bzw. nur sehr
schwach, sodass über die Domäne II kein Effekt vermittelt
wird. Telithromycin bindet auch an dieser zweiten Stelle mit hoher
Affinität. Durch diesen zweifachen Wirkansatz wird die Proteinbiosynthese
wirkungsvoll blockiert [18, 21].
Die neue Ketolid-Struktur
bringt noch einen weiteren Effekt mit sich. Der Austausch des Zuckers
durch die Keto-Gruppe macht eine Induktion von Resistenzen in der
Zukunft unwahrscheinlich, ermB-kodierte Resistenzen werden
nicht aktiviert.
Außerdem wurde
nachgewiesen, dass die Ketolide aufgrund ihrer Carbamat-Seitenkette
die bakterielle Effluxpumpe sehr viel schwächer induzieren
als z. B. Erythromycin und sich demzufolge in höherer Konzentration
im Zellinneren ansammeln können.
Aktuelle Untersuchungen
lassen darauf schließen, dass diese günstige Resistenzsituation
vergleichsweise stabil ist: So wurden Erythromycin A-sensitive Pneumokokkenstämme
sequentiell mit subinhibitorischen Konzentrationen von Telithromycin
behandelt. Bei diesen Stämmen konnten selbst nach mehreren
Durchgängen keine Isolate mit Resistenzen gegen das Ketolid
selektioniert werden [13, 15].
Ketolide
|
Bindung
an Domäne II und V
zweifacher Wirkansatz
|
passendes Wirkspektrum
gegen AWI in der Praxis
|
auch wirksam bei
Penicillin- und
Makrolid-resistenten Erregern
|
Resistenzinduktion
unwahrscheinlich
|
|
Aufbau
der 30S- und 50S-
Ribosomenuntereinheiten wird gehemmt
|
Starke
Bindung
|
|
Mikrobiologisches
Wirkungsspektrum
Ketolide zeigen eine
besonders gute Wirkung gegen die häufigsten Erreger respiratorischer
Infektionen. Dazu gehören S. pneumoniae, H. influenzae
und Moraxella catarrhalis. Darüber hinaus wirken sie
bei atypischen/intrazellulären Erregern wie Legionellen, Chlamydien
und Mykoplasmen [5, 7, 29, 30].
Sie wirken sowohl gegen
Penicillin-empfindliche als auch Penicillin- und Erythromycin-resistente
Stämme von S. pneumoniae [7] (Tab. 1).
Tabelle
1: S. pneumoniae
S.
pneumoniae
|
Telithromycin
MHK50 mg/l
|
Telithromycin
MHK90 mg/l
|
Ery-sen
|
0,008
|
0,008
|
Ery-res
(mef E)
|
0,06
|
0,12
|
Ery-res
(erm B)
|
0,03
|
0,125
|
|
Bemerkt werden muss,
dass die Ketolide einen bakteriziden Effekt aufweisen. Weiters besteht
ein starker postantibiotischer Effekt [22, 26] (Abb. 4).
Abbildung
4: Bakterizide Wirkung gegen Pneumokokken (Makrolid- und
Penicillin-resistente)
|
|
Pharmakokinetik
Die pharmakokinetischen
Eigenschaften der Ketolide wie Telithromycin zeichnen sich durch
eine schnelle Anflutung (tmax), hohe Serumspiegel
(cmax), hohe Konzentrationen über die
Zeit im Plasma (AUC), lange terminale Halbwertszeit (t1/2) und hohe
Gewebekonzentrationen aus [25].
Nach einmaliger Gabe
von 800 mg Telithromycin werden maximale Plasmakonzentrationen von
1,99 mg/l nach 1 Stunde erreicht. Die orale Bioverfügbarkeit
beträgt 57% [27].
Die Resorption wird durch
gleichzeitige Nahrungsaufnahme nicht verändert. Die terminale
Halbwertszeit beträgt 10,6 h.
Ketolide penetrieren
schnell in die entzündlichen Gewebe und reichern sich dort
in hohen Konzentrationen an. Die Konzentrationen am Wirkort übersteigen
die Konzentrationen im Plasma [12] (Tab. 2).
Tabelle
2: Gewebekonzentrationen
Telithromycin |
|
2
h
|
24
h
|
Alveolarmakrophagen |
Durchschnittskonzentration
mg/l |
65
|
41
|
Verhältnis
zum Plasma |
55
|
535
|
Alveolarfilm |
Durchschnittskonzentration
mg/l |
5,4
|
1,17
|
Verhältnis
zum Plasma |
4,8
|
14,3
|
Bronchialmukosa |
Durchschnittskonzentration
mg/l |
0,68
|
3,5
|
Tonsillen |
Durchschnittskonzentration
mg/l |
3,95
|
0,7
|
Verhältnis
zum Plasma |
3,4
|
13,1
|
|
|
Zusammenfassung
Die steigenden bakteriellen
Resistenzen verschiedenster Erreger gegenüber Betalaktamen
und Makroliden rechtfertigen den Einsatz neuerer Substanzen, die
auch gegen resistente Erreger wirksam sind. Die neue Gruppe der
Ketolide und insbesondere Telithromycin eignen sich hervorragend
für die empirische Therapie ambulant erworbener respiratorischer
Infektionen. Das hervorragende Wirkprofil, der Mangel an Induktion
von Resistenzen, die ausgezeichnete Pharmakokinetik und die gute
Verträglichkeit von Telithromycin lassen diese Substanz als
unverzichtbaren Bestandteil eines modernen Infektionsmanagements
erscheinen.
|
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|
Anschrift
des Verfassers:
Univ.-Prof. DDr. Wolfgang Graninger
Univ.-Klinik für Innere Medizin I, Klin. Abt. für Infektionen
und Chemotherapie
A-1090 Wien, Währinger Gürtel 18-20
E-Mail:
wolfgang.graninger@akh-wien.ac.at
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